GEWISSENSQUALEN
Ein Tag,
nachdem sie Eastcroft verlassen hatten und der Nachmittag bereits
angebrochen war, nahm Eragon den Spähtrupp von fünfzehn Soldaten
vor ihnen wahr.
Er machte Arya darauf aufmerksam und sie
nickte. »Ich habe sie auch schon bemerkt.« Keiner von beiden sprach
irgendwelche Befürchtungen aus, aber die Angst nagte an Eragons
Eingeweiden, und er sah, dass Arya die Stirn in grimmige Falten
legte.
Um sie herum war nur unbewaldetes, flaches
Land, das keinerlei Deckung bot. Sie waren schon zuvor dem einen
oder anderen Soldatentrupp begegnet, aber immer in der Gesellschaft
anderer Reisender. Nun waren sie die Einzigen weit und breit.
»Wir können ja mit Magie ein Loch graben, es
mit Zweigen zudecken und uns darin verstecken, bis sie weg sind«,
schlug Eragon vor.
Arya schüttelte den Kopf, ohne stehen zu
bleiben. »Und was sollen wir mit der Erde machen? Sie würden
denken, dass sie den größten Maulwurfshügel aller Zeiten entdeckt
haben. Abgesehen davon würde ich unsere Energie lieber fürs Laufen
aufsparen.«
Eragon stöhnte. Ich weiß nicht, wie viele weitere Meilen ich noch
schaffen kann. Er war zwar nicht am Ende seiner Kräfte,
aber das pausenlose Laufen machte ihn mürbe. Die Knie schmerzten,
seine Fußknöchel waren entzündet, der linke große Zeh war rot und
geschwollen und an den Fersen bildeten sich immer wieder Blasen,
ganz gleich wie fest er sie bandagierte. In der letzten Nacht hatte
er etliche Wunden geheilt, die ihn quälten, aber auch wenn ihm das
eine gewisse Erleichterung verschaffte, hatten ihn die
Beschwörungen doch zusätzlich erschöpft.
Der Spähtrupp war schon eine halbe Stunde,
bevor Eragon einzelne Gestalten auf Pferden ausmachen konnte, an
einer gelben Staubwolke zu erkennen. Da er und Arya schärfere Augen
hatten als die meisten Menschen, war es unwahrscheinlich, dass die
Reiter sie auf diese Entfernung sahen, also rannten sie noch zehn
Minuten weiter. Dann blieben sie stehen. Arya holte einen Rock aus
ihrem Bündel und zog ihn über die enge Hose, die sie beim Laufen
trug. Eragon verstaute Broms Ring in seinem Rucksack und
beschmierte sich die rechte Handfläche mit Erde, um die silbrige
Gedwëy Ignasia zu verbergen. Dann setzten sie mit hängenden
Schultern und schlurfenden Schritten ihren Weg fort. Wenn alles gut
ging, würden die Soldaten annehmen, sie wären nur ein weiteres
Flüchtlingspaar.
Obwohl Eragon bereits die Hufschläge spüren
und die Anfeuerungsrufe der Soldaten hören konnte, dauerte es noch
fast eine Stunde, bis sie sich auf der weiten Ebene trafen. Als es
so weit war, traten Eragon und Arya beiseite und blieben mit
gesenkten Köpfen neben der Straße stehen. Eragon erhaschte aus dem
Augenwinkel einen Blick auf die Beine der Pferde, als die ersten
Reiter vorbeistampften. Dann nebelte ihn der Staub ein, sodass er
nichts mehr sehen konnte. Die Luft war so dick, dass er die Augen
schließen musste. Er horchte und zählte, bis er sicher war, dass
mehr als die Hälfte der Patrouille an ihnen vorüber
war. Sie machen sich nicht die Mühe, uns
auszufragen, dachte er.
Doch seine Freude hielt nicht lange an. Kurz
darauf schallte es aus der Staubwolke: »Kompaniiie halt!« Es folgte
ein Chor von Kommandos wieBrrr!, Steh!,
Ruhig! und andere, während die fünfzehn Männer ihre
Pferde dazu brachten, einen Kreis um Eragon und Arya zu bilden.
Bevor die Soldaten mit dem Manöver fertig waren und die Luft klarer
wurde, tastete Eragon am Boden nach einem großen Kieselstein und
richtete sich dann wieder auf.
»Bleib ruhig!«, zischte Arya.
Während er darauf wartete, dass die Soldaten
ihre Absichten kundtun würden, bemühte sich Eragon, seinen rasenden
Herzschlag niederzukämpfen, indem er sich die Geschichte ins
Gedächtnis rief, die sie sich überlegt hatten, um ihre Anwesenheit
so nah an der Grenze zu Surda zu erklären. Seine Bemühungen
brachten jedoch nichts. Trotz seiner Stärke, seiner Ausbildung und
des Wissens um seine Siege und trotz eines halben Dutzends
Schutzzauber war er überzeugt, jetzt sterben zu müssen. Seine Kehle
war wie zugeschnürt, sein Magen drehte sich ihm um und die Knie
wurden weich. Nun macht
schon!, dachte er. Er wollte irgendetwas zerreißen, als
könnte ein Akt der Zerstörung den zunehmenden Druck in ihm abbauen.
Aber dieser Drang machte ihn erst recht nervös, denn er wagte es
nicht, sich zu rühren. Das Einzige, was ihn davon abhielt, die
Nerven zu verlieren, war Aryas Gegenwart. Denn lieber hätte er sich
eine Hand abgehackt, als zu riskieren, dass sie ihn für einen
Feigling hielt. Und obwohl sie selbst eine große Kämpferin war,
hatte er den Wunsch, sie zu verteidigen.
Die Stimme, die den Befehl zum Anhalten
erteilt hatte, erklang erneut: »Ich will eure Gesichter sehen!« Als
Eragon den Kopf hob, sah er vor sich einen Mann auf einem
rotbraunen Schlachtross sitzen, der die Hände um den Sattelknauf
gelegt hatte. Auf seiner Oberlippe spross ein gewaltiger gelockter
Schnurrbart, der von den Mundwinkeln auf beiden Seiten noch gut
neun Zoll abstand, was einen krassen Gegensatz zu den glatten
Haaren bildete, die ihm auf die Schultern fielen. Eragon fragte
sich, wie das haarige Kunstwerk überhaupt halten konnte, zumal es
stumpf und glanzlos und offensichtlich nicht mit warmem Bienenwachs
getränkt worden war.
Die anderen Soldaten hielten ihre Speere auf
Eragon und Arya gerichtet. Die Männer waren so verdreckt, dass man
die Flammen, mit denen ihre Wämser bestickt waren, gar nicht mehr
erkennen konnte.
»Also«, sagte der Mann und sein Schnurrbart
wackelte wie wild auf und ab. »Wer seid ihr? Wo wollt ihr hin? Und
wie bestreitet ihr euren Lebensunterhalt im Land des Königs?« Dann
machte er jedoch eine wegwerfende Handbewegung. »Ach was, spart
euch die Antwort. Sie zählt sowieso nicht. Nichts zählt heutzutage
mehr. Die Welt geht unter, und wir verschwenden unsere Zeit damit,
dumme Bauern auszufragen. Pah! Abergläubisches Pack, zieht von
einem Ort zum andern, frisst uns das Essen weg und vermehrt sich
wie die Karnickel. Bei uns in Urû’baen prügeln wir solche wie euch
windelweich, wenn wir sie dabei erwischen, wie sie ohne Genehmigung
durch die Gegend laufen, und wer seinen Herrn bestiehlt, hängt. Ist
doch sowieso alles gelogen, was ihr mir erzählen wollt. Immer
dasselbe... Was habt ihr denn in eurem Bündel da, hä? Ja, ja,
Proviant und Decken, aber vielleicht auch ein Paar goldene
Kerzenleuchter, hä? Silber aus geheimen Truhen? Briefe für die
Varden? Wie? Habt ihr die Sprache verloren? Na, das werden wir
gleich haben. Langward, sieh doch mal nach, was für Schätze du aus
dem Rucksack dort bergen kannst.«
Eragon stolperte vorwärts, als ihm einer der
Soldaten das Heft seines Speers in den Rücken stieß. Er hatte seine
Rüstung in Lumpen eingewickelt, damit die Einzelteile nicht
aneinanderschlugen. Die Lumpen waren jedoch zu dünn, um die Wucht
dieses Stoßes abzufangen, und es klirrte metallisch.
»Oho!«, rief der Mann mit dem
Schnurrbart.
Der Soldat packte Eragon von hinten, löste
die Schnüre des Rucksacks und zog das Kettenhemd heraus. »Seht mal,
Hauptmann!«
Der Bärtige grinste erfreut. »Eine Rüstung!
Und nicht die schlechteste, wie mir scheint. Du steckst
ja wirklich voller
Überraschungen. Willst wohl zu den Varden, was? Verrat und Aufruhr
anzetteln, wie?« Sein Gesichtsausdruck wurde säuerlich. »Oder bist
du etwa einer von denen, die uns ehrliche Soldaten in Verruf
bringen? Dann bist du aber ein rechter Taugenichts. Hast ja nicht
mal eine Waffe. War dir wohl zu mühsam, dir einen Stab oder eine
Keule zu schnitzen, wie? Antworte gefälligst!«
»Nein, Herr.«
»Was heißt hier ›Nein, Herr‹? Ist dir wohl
gar nicht in den Sinn gekommen, schätze ich mal. Zu dumm, dass wir
solche Einfaltspinsel einziehen müssen. So weit hat uns dieser
verdammte Krieg schon gebracht, dass wir die letzten Reste
zusammenkratzen müssen.«
»Einziehen, Herr?«
»Ruhe, du unverschämter Kerl! Niemand hat
dir erlaubt zu sprechen!« Mit zitterndem Schnurrbart fuchtelte der
Mann in der Luft herum. Sterne explodierten vor Eragons Augen, als
der Soldat ihm von hinten auf den Kopf schlug. »Ob du nun ein Dieb,
ein Verräter, ein Söldner oder einfach nur ein Dummkopf bist, läuft
auf dasselbe hinaus. Wenn du erst mal den Diensteid geleistet hast,
bleibt dir gar nichts anderes übrig, als Galbatorix und denen, die
für ihn sprechen, zu gehorchen. Wir werden die erste Armee in der
Geschichte sein, in der es keine Unstimmigkeiten gibt. Kein
sinnloses Herumgeschwafel darüber, was wir zu tun oder zu lassen
haben. Nur klare, direkte Befehle. Auch du sollst unsere Sache
vertreten. Du sollst das Privileg haben, dazu beizutragen, dass die
ruhmreiche Zukunft, die unser großer König vorausgesehen hat, wahr
wird. Und was deine hübsche Begleiterin angeht, werden sich schon
Wege finden, wie sie dem Imperium von Nutzen sein kann, was? Und
jetzt fesselt die beiden!«
Da wusste Eragon, was er zu tun hatte. Er
bemerkte, dass Arya bereits zu ihm herüberschaute. Ihre Augen waren
hart und leuchteten. Er zwinkerte einmal. Sie zwinkerte zurück.
Dann schloss sich seine Hand um den Stein.
Die meisten Soldaten, gegen die Eragon auf
den Brennenden Steppen gekämpft hatte, waren mit einem rudimentären
Schutzzauber ausgestattet gewesen, der sie vor magischen Angriffen
bewahren sollte. Daher nahm er an, dass es sich bei diesen Männern
nicht anders verhielt. Er vertraute darauf, dass er jeden Zauber,
den Galbatorix’ Magier gewirkt hatten, brechen oder umgehen konnte,
aber das hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Deshalb reckte er
stattdessen den Arm in die Höhe und warf mit einer Drehung des
Handgelenks den Stein nach dem Mann mit dem Schnurrbart.
Das Geschoss durchschlug seinen Helm.
Bevor der Rest reagieren konnte, fuhr Eragon
herum, riss dem Soldaten, der ihn geschlagen hatte, den Speer aus
der Hand und stieß ihn damit vom Pferd. Als er am Boden aufkam,
rammte Eragon ihm den Speer ins Herz, wobei die Speerspitze an den
Metallplättchen zerbrach, mit denen das Wams des Soldaten besetzt
war. Dann ließ er den Speer los und hechtete aus der Schusslinie,
während sieben Speere auf die Stelle zuflogen, wo er gerade noch
gestanden hatte. Die tödlichen Geschosse schienen über ihm zu
schweben, als er sich zu Boden fallen ließ.
In dem Moment, als Eragon den Stein warf,
hatte sich Arya auf das nächstbeste Pferd geschwungen, indem sie
vom Steigbügel in den Sattel schnellte, und dem ahnungslosen
Soldaten, der obendrauf saß, einen Schlag vor den Kopf verpasst. Er
flog mehr als dreißig Fuß weit. Dann sprang sie mit unglaublicher
Anmut von einem Pferderücken auf den nächsten und tötete die
Soldaten mit ihren Knien, Füßen und Händen.
Eragons Bauch schrammte über spitze
Felsbrocken, als er hinfiel. Er verzog das Gesicht und sprang auf.
Vier Soldaten, die inzwischen abgestiegen waren, standen mit
gezogenen Schwertern vor ihm. Als sie auf ihn losgingen, wirbelte
er nach rechts, packte das Handgelenk des ersten und hieb ihm in
die Achselgrube. Der Mann brach zusammen und rührte sich nicht
mehr. Die nächsten beiden Angreifer erledigte er, indem er ihnen
die Köpfe verdrehte, bis ihr Genick brach. Inzwischen war der
vierte Soldat schon so nahe herangekommen, dass Eragon ihm nicht
mehr ausweichen konnte.
Da half nur noch eines: Er rammte dem Mann
mit aller Kraft die Faust in den Brustkorb. Der Hieb landete
zwischen den Rippen seines Gegners und katapultierte ihn mehr als
ein Dutzend Fuß weit übers Gras, wo er auf einen anderen Leichnam
prallte.
Eragon schnappte nach Luft und krümmte sich,
wobei er sich die schmerzhaft pochende Hand hielt. Vier Knöchel
waren zertrümmert und weißer Knorpel blitzte durch die malträtierte
Haut. Verdammt, dachte er, als
heißes Blut aus der Wunde lief. Seine Finger versagten ihm den
Dienst, und er begriff, dass die Hand nicht zu gebrauchen sein
würde, bis er sie heilen konnte. In Erwartung eines neuen Angriffs
sah er sich nach Arya und den restlichen Soldaten um.
Die Pferde waren auseinandergestoben. Nur
drei Soldaten waren noch am Leben. Mit zweien von ihnen war Arya in
einiger Entfernung beschäftigt, während der letzte in südlicher
Richtung zu fliehen versuchte. Eragon nahm all seine Kräfte
zusammen und verfolgte ihn. Als er ihm immer näher kam, bettelte
der Mann um Gnade, versprach ihm, niemandem etwas von dem Gemetzel
zu erzählen, und hielt ihm die ausgestreckten Hände entgegen, um
ihm zu zeigen, dass er unbewaffnet war. Als Eragon bis auf
Armeslänge herangekommen war, wich der Mann seitlich aus, ein paar
Schritte weiter änderte er erneut die Richtung. Er schlug weiter
Haken wie ein gehetztes Kaninchen und die ganze Zeit über bettelte
er, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. Er jammerte, er
sei noch viel zu jung zum Sterben, er müsse doch erst noch heiraten
und Kinder zeugen, seine Eltern würden ihn vermissen und dass man
ihn gezwungen habe, in die Armee einzutreten. Es sei erst sein
fünfter Einsatz und Eragon solle ihn doch in Ruhe lassen. »Was hast
du denn gegen mich?«, schluchzte er. »Ich hab doch nur getan, was
ich tun musste. Ich bin ein guter Mensch!«
Eragon hielt inne und zwang sich zu sagen:
»Du kannst nicht mit uns Schritt halten. Und wir können dich auch
nicht laufen lassen. Sonst schnappst du dir ein Pferd und verrätst
uns.«
»Nein, ganz bestimmt nicht!«
»Die Leute werden dich fragen, was hier
passiert ist. Dein Eid Galbatorix und dem Imperium gegenüber wird
dich daran hindern zu lügen. Es tut mir leid, aber ich weiß nicht,
wie ich dich von diesen Banden befreien kann, außer...«
»Warum tust du das? Du bist ein Ungeheuer!«,
kreischte der Mann. Das nackte Entsetzen stand ihm ins Gesicht
geschrieben und er versuchte, an Eragon vorbei zur Straße zu
rennen. Eragon hatte ihn schnell eingeholt. Da der Mann immer noch
heulte und um Gnade flehte, legte er ihm die linke Hand um den Hals
und drückte zu, bis er es knacken hörte. Als er losließ, fiel ihm
der Soldat tot vor die Füße.
Ein gallebitterer Geschmack lag auf Eragons
Zunge, als er in die starren Züge blickte. Immer wenn wir jemanden töten, töten wir auch ein Stück
von uns selbst, dachte er. Zitternd vor Ekel, Schmerz und
Selbsthass kehrte er dahin zurück, wo alles begonnen hatte. Arya
kniete neben einem Leichnam und wusch sich die Hände mit Wasser aus
einer Blechflasche, die einer der Soldaten bei sich gehabt
hatte.
»Wie kommt es«, sagte sie, »dass du diesen
Mann umgebracht hast, dich aber nicht überwinden konntest, Hand an
Sloan zu legen?« Sie stand auf und sah ihn freimütig an.
Eragon fühlte sich leer. Achselzuckend sagte
er: »Er war eine Gefahr, Sloan nicht. Ist das nicht
offensichtlich?«
Arya schwieg für eine Weile. »Das sollte es
wohl, ist es aber nicht... Es beschämt mich, mich von jemandem
moralisch belehren lassen zu müssen, der so viel weniger Erfahrung
hat. Vielleicht war ich bisher immer zu sicher, das Richtige zu
tun.«
Eragon hörte ihre Worte, doch sie hatten
keine Bedeutung für ihn, während sein Blick über die Toten
hinwegglitt. Ist das alles, was aus
meinem Leben geworden ist?, fragte er
sich. Eine endlose Folge von
Schlachten? »Ich fühle mich wie ein Mörder.«
»Ich verstehe, wie schwierig das für dich
sein muss«, sagte Arya. »Vergiss nicht, Eragon, du hast erst einen
kleinen Teil dessen erfahren, was es bedeutet, ein Drachenreiter zu
sein. Irgendwann wird dieser Krieg zu Ende sein, und du wirst
sehen, dass deine Pflichten nicht nur aus Gewalt bestehen. Die
Drachenreiter waren nicht nur Krieger, sie waren auch Lehrer,
Heiler und Gelehrte.«
Einen Moment lang verhärteten sich seine
Kiefermuskeln. »Warum kämpfen wir gegen diese Männer, Arya?«
»Weil sie zwischen uns und Galbatorix
stehen.«
»Dann sollten wir eine Möglichkeit finden,
Galbatorix direkt zu fassen zu kriegen.«
»Es gibt keine. Wir können nicht in Urû’baen
einmarschieren, bevor wir seine Truppen besiegt haben. Und wir
können seine Burg nicht einnehmen, ohne zuvor jahrhundertealte
Fallen, magische und andere, unschädlich zu machen.«
»Es muss eine Möglichkeit geben«, brummte
er. Er blieb, wo er war, als Arya losging und einen Speer packte.
Doch als sie einem toten Soldaten die Spitze unters Kinn setzte und
in den Schädel stieß, sprang er auf sie zu und zog sie weg von dem
Körper. »Was tust du denn da?«, rief er.
Zorn flackerte in Arya auf. »Das verzeihe
ich dir nur, weil du ziemlich durcheinander bist. Denk nach,
Eragon! Die Zeiten, in denen man dich wie ein Kind behandelt hat,
sind vorbei. Warum ist das wohl nötig?«
Die Antwort lag auf der Hand und er sagte
widerwillig: »Wenn wir es nicht tun, merkt das Imperium, dass die
meisten dieser Männer mit bloßen Händen getötet wurden.«
»Genau! Zu einem solchen Kraftakt sind nur
Elfen, Drachenreiter und Kull fähig, und dass das hier kein Kull
war, erkennt selbst ein Trottel. Also können sie sich an den
Fingern abzählen, dass wir in der Gegend sind, und in weniger als
einem Tag fliegen Dorn und Murtagh da oben herum und suchen nach
uns.« Ein schmatzender Laut war zu hören, als sie den Speer aus dem
Leichnam zog. Sie hielt ihn Eragon hin, bis er ihn nahm. »Ich finde
das genauso ekelhaft wie du, also kannst du dich ruhig auch ein
bisschen nützlich machen.«
Eragon nickte. Dann suchte Arya sich ein
Schwert und sie machten sich gemeinsam daran, es so aussehen zu
lassen, als habe ein ganz gewöhnlicher Kriegertrupp die Soldaten
getötet. Es war eine grässliche Arbeit, aber es ging schnell, denn
beide wussten genau, welche Art von Verletzungen die Männer haben
mussten, damit die Täuschung gelänge. Außerdem war ihnen beiden
nicht danach zumute, unnötig zu trödeln. Als sie zu dem Mann kamen,
dem Eragon den Brustkorb zerschmettert hatte, sagte Arya: »Wir
können nicht viel tun, um diese Verletzung zu verschleiern. Wir
müssen es lassen, wie es ist, und hoffen, dass sie annehmen, es
habe ihn ein Pferd niedergetrampelt.« Sie gingen weiter. Der
Letzte, dem sie sich widmen mussten, war der Hauptmann des
Spähtrupps. Sein Schnurrbart hing jetzt schlaff und struppig herab,
von seiner einstigen Pracht war nicht mehr viel übrig.
Nachdem sie das Loch von dem Kieselstein so
vergrößert hatten, dass es eher wie die dreieckige Vertiefung
aussah, die ein Kriegshammer hinterlassen würde, hielt Eragon einen
Augenblick inne und betrachtete den traurigen Schnurrbart des
Mannes. Dann sagte er: »Er hatte recht, weißt du.«
»Womit?«
»Ich brauche eine Waffe, eine richtige
Waffe. Ich brauche ein Schwert.« Er wischte sich die Hände am Saum
seines Wamses ab und sah sich um, zählte die Leichen. »Das war’s
dann, oder? Wir sind fertig.« Er ging seine verstreute Rüstung
einsammeln, wickelte sie wieder in den Stoff und steckte sie zurück
in seinen Rucksack. Dann leistete er Arya auf dem kleinen Hügel
Gesellschaft, den sie hinaufgestiegen war.
»Von jetzt an sollten wir die Straßen besser
meiden«, sagte sie. »Wir können nicht noch einen Zusammenstoß mit
Galbatorix’ Leuten riskieren.« Dann zeigte sie auf Eragons
malträtierte rechte Hand, von der Blut auf seine Kleider tropfte,
und sagte: »Wir sollten uns darum kümmern, bevor wir aufbrechen.«
Ohne auf seine Antwort zu warten, nahm sie seine gelähmten
Finger. »Waíse heill.«
Ein unwillkürliches Stöhnen entfuhr ihm, als
die Finger in ihre Gelenkpfannen zurücksprangen, die
aufgescheuerten Sehnen und zerquetschten Knorpel ihre alte Gestalt
annahmen und die Hautfetzen an seinen Knöcheln sich wieder über das
rohe Fleisch legten. Als es vorbei war, öffnete und schloss er die
Hand, um zu sehen, ob sie wieder vollkommen geheilt war. »Danke«,
sagte er. Es erstaunte ihn, dass sie die Initiative ergriffen
hatte, obwohl er durchaus in der Lage war, sich selbst um seine
Verletzungen zu kümmern.
Arya wirkte verlegen. Sie schaute weg, auf
die Ebene hinaus, und sagte: »Ich bin froh, dass du heute bei mir
warst, Eragon.«
»Und ich, dass du bei mir warst.«
Sie schenkte ihm ein schnelles, unsicheres
Lächeln. Dann saßen sie noch eine weitere Minute auf dem Hügel,
denn sie waren beide nicht besonders erpicht darauf, ihre Reise
fortzusetzen. Schließlich sagte Arya seufzend: »Wir müssen los. Die
Schatten werden lang, und bald wird irgendjemand auftauchen und ein
Riesengeschrei machen, wenn er dieses Krähenfestmahl
entdeckt.«
Sie verließen den Hügel und wandten sich
nach Südwesten, weg von der Straße, und liefen über das wogende
Gräsermeer. Hinter ihnen ließen sich die ersten Aasfresser vom
Himmel herabfallen.